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Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt

Ausnahmezustand

Navid Kermani: Ausnahmezustand
Reisen in eine beunruhigte Welt

Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt. München : C.H.Beck, 2013, ISBN 978-3-406-64664-5

Navid Kermani wurde 1967 als vierter Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren. Er ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Publizist, habilitierter Orientalist und veröffentlichte bisher, neben seinen Reportagen und Artikeln, die in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen und erscheinen, eine Reihe Reportage- und Sachbücher im C.H.Beck Verlag (1), sowie literarische Texte, darunter den (Riesentagebuch-) Roman Dein Name (2) im Carl Hanser Verlag (3).  

Kermani erhielt verschiedene Auszeichnungen, darunter den Heinrich von Kleist Preis, 2012 (4), den Hannah Arendt Preis für politisches Denken, 2011 (5) – und nicht zuletzt den Hessischen Kulturpreis, 2010 (6), um dessen Vergabe es dank des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (7) und zweier protestierender Mitpreisträger (Karl Lehman, Peter Steinacker) einige Diskussionen und eine Menge Ärger gegeben hat. 

Der in diesem Jahr publizierte Band Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt enthält 10 (Reise-)Reportagen, die vorher bereits in stark verkürzter Form in verschiedenen Zeitungen (NZZ, Süddeutsche, taz, Die Zeit) veröffentlicht  worden sind.

Den Rahmen für die Reportagen bilden Pro- und Epilog. Beide Male befindet sich der Autor im selben Teehaus in Kairo. Der Prolog ist zeitlich im Dezember 2006 angesiedelt, also 5 Jahre vor dem Sturz  des Mubarak-Regimes und damit noch mittendrin im säkular-korrupten Ägypten. Schon hier wird die ganze Gegensätzlichkeit der Welten, die in den Reportagen  geschildert werden, auf eine ganz poetische Art vorweggenommen:

… die kunstvollsten arabischen Orchester aus den quälendsten Lautsprechern, die Männer, die bei ihren Kartenspielen zu kleinen Jungen werden, die Frauen, die ebenfalls so tun, als wären sie noch jung, und vor allem das Lachen, das laute, glucksende, polternde, quiekende, heisere, schadenfrohe, selbstironische, diebische, verschmitzte, gutmütige, verzeihende Lachen, das man in Kairo öfter als in jeder anderen Stadt  hört und nirgends in Kairo öfter als an einem Abend im Teehaus, glücklicherweise immer noch hört, muss ich sagen, denn vor jeder Rückkehr fürchte ich, dass die Fee, die alles fügt, verschwunden sein könnte. (S. 9)

Im Epilog sitzt der Autor im selben Teehaus in Kairo, es ist jetzt Oktober 2012, die Revolution, die 2011 auf dem Tahrir-Platz begonnen hat, endete vorläufig mit der gewählten Regierung der Muslim-Bruderschaft und Präsident Mursi und grosse Teile der Ägypter sind ob der Theologisierung ihres Landes wieder ähnlich unzufrieden wie zu Mubaraks Zeiten, denn das war nicht Ziel ihrer Revolution. Die Menschen sind aber noch nicht wieder auf den Strassen und Plätzen. Die Stimmung im Teehaus ist resigniert, melancholisch und trotzdem fällt der von heute aus gesehen gradezu prophetische Satz:
Wenn je wieder ein Präsident nicht abtreten wolle, müsse er fortan mit den Jugendlichen rechnen. (S. 252)

In allen 10 Reportagen geht es um das Schicksal von Menschen, die in Krisen- und Kriegs- und Armutsregionen leben müssen – und häufig keinen anderen Ausweg wissen, als aus ihrem Land zu flüchten.

Kermani nimmt den Leser mit auf eine Reise, die von Indien (Kaschmir, Delhi, Gujarat) überPakistan, Afghanistan, Iran (Teheran), Syrien, Palästina bis nach Lampedusa führt. Nach Lampedusa, den europäischen Vorposten im Mittelmeer und den Ort, wo viele Menschen aus den vorgenannten Gegenden  in einem italienischen EU-Flüchtlingslager ‚zwischenlanden‘.

Das ist keine komfortable Reise, auf die der Autor seine Leser da mitnimmt, denn es sind in der Tat die durch politische, interkulturelle und interreligiöse Konflikte (meist spielen alle drei Aspekte zusammen) für viele der dort lebenden Menschen völlig unwirtlich gemachte Gegenden und Regionen, von denen –  wenn überhaupt – dann ganz sicher nicht auf diese Weise, in den Hauptnachrichten dieser Welt berichtet wird.

Man erfährt als Leser ganz viel über die interkulturellen und geschichtlichen Hintergründe der Konfliktregionen und wie die Menschen damit versuchen umzugehen. Der Autor schafft das durch ganz genaues Beobachten

Später bemerke ich, wie der Hadschi unauffällig meine Schuhe herumdreht, die Ferse zum Teppich. Das ist in Afghanistan üblich, damit die Gäste beim Gehen leichter in ihre Schuhe hineinschlüpfen können. Auf diese Geste sollte die Welt in Afghanistan achten. (S. 168)

und indem er sehr viele Gespräche mit den Einheimischen führt, bei denen er es durch sein   Einfühlungsvermögen immer wieder schafft, einem diese Menschen in ihren Lebenssituationen näher zu bringen. Sein grosses Wissen als Orientalist kommt ihm hierbei natürlich zugute und lässt ihn immer wieder die für den Leser wichtigen grösseren Zusammenhänge herstellen.

Dazu kommt natürlich, dass die meisten Regionen, die er in seinen Reportagen bereist und beschreibt zumindest in grossen Teilen islamisch geprägt sind, und der Autor, selber gläubiger Muslim, sehr eindrucksvoll die Vielfalt dieser Religion und ihrer Strömungen und Einflüsse beschreibt, schlicht dadurch, dass er die Menschen, die er trifft, erzählen lässt. Besonders eindrucksvoll fand ich das in den Reportagen über Afghanistan und Iran gelungen.

Dabei wird er auch immer wieder persönlich. Er beschreibt, wie er sich als aufgeklärter und gleichzeitig religiöser Mensch in den verschiedenen, teilweise durchaus gefährlichen Situationen wahrnimmt oder einfach auch nur, wie er wohnt und von seinen temporären Mitbewohnern wahrgenommen wird.

Für mich ist am Ende diese Mischung aus objektiver Beschreibung gepaart mit grossem Hintergrundwissen, subjektiver Wahrnehmung und der Herstellung von grösseren Zusammenhängen, in denen wir als Bewohner der ‚westlichen Welt‘ eine nicht geringe Rolle spielen, der grosse Gewinn der Lektüre dieses Buches.

Dazu kommt, dass Kermani, ob bei der Wiedergabe von Dialogen, in objektiv journalistischen oder in den subjektiven Teilen dieses Buches – die  übrigens ständig ineinander übergehen – eine sehr klare, zuweilen fast poetische Sprache benutzt, die das Buch für mich zu einem fast literarischenVergnügen gemacht hat und ich möchte das Buch wirklich allen empfehlen, die gerne mehr als nur ein bisschen an der Oberfläche dieser Welt voller Widersprüche, Schönheiten und Grausamkeiten kratzen möchten.

Am Ende noch ein paar informative Links, nachdem ich beschlossen habe, dass die Verlinkung innerhalb des Textes entweder kaum sichtbar wird oder einfach den Textfluss stört. Ich werde das ab jetzt wohl immer so machen, man lernt ja nie aus…

Die Info-Links
(1)Autorenseite Navid Kermani  bei C.H. Beck
(2) Rezension des Romans Dein Name im Berliner Zeitung vom 29.08.2011
(3) Autorenseite Navid Kermani bei Hanser
(4) Artikel auf ZEITonline zum Erhalt des Heinrich-von-Kleist-Preises 2012 vom 20.08.2012
(5) Artikel auf ZEITonline zum Erhalt des Hannah-Arendt-Preises 2011 vom 03.12.2011
(6) Hessischer Kulturpreis – ausführliche Informationen inkl. weiterführender Links zum Preis, den Preisträgern und dem ‚Skandal‘ um die Preisvergabe an Kermani bei Wikipedia
(7) Artikel auf süddeutsche.de – Koch entschuldigt sich bei Kermani, vom 17.05.2010
(8) Homepage Navid Kermani Link liegt auch hinter dem Coverbild
(9) Rezension des Buches auf dradio.de – Deuzschlandradio Kultur vom 12.03.2013
(10) Besprechung des Buches auf dem Blog Literaturen | ein Streifzug durch die Welt der Literatur und Kultur vom 21..05.2013