Monatsarchiv: Januar 2015

Johannes Bobrowski – zwei Gedichte, kein Geschwätz

Sarmatische Zeit - Schattenland Srtröme

Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit – Schattenland Ströme | Einband-Gestaltung unter Verwendung eines Aquarells von HAP Grieshaber

 

Der 70ste Jahrestag ist vorbei, die Reden sind gehalten. Ein paar sehr mutige Überlebende bekamen grosszügig für ein paar kurze Tage ein grosses Podium.

Und nun wieder Tagesordnung. Und nun streiten wir wieder über Griechenland und den Euro und überall taucht diese mediokre, blonde Schlagersängerin auf.

Derweil gehen die Kriege weiter, der Terror hört nicht auf, Katar wird Handball-Weltmeister, irgendwer glaubt, der ganz gemeine Stammtischbürgertreff wird sich auflösen und die immer gleichen Experten versammeln sich wieder in den Talkshows und wissen alles besser.

Mir hat es spätestens seit den Anschlägen  bei all der Gewalt und dem Geschwätz schlicht die Sprache verschlagen. Deshalb gab es hier auch eine ganze Weile schon keinen eigenen Beitrag von mir.

Am 29. Januar, dem Tag vor 70 Jahren, an dem die jüdischen und all die anderen Nazi-Opfer aus dem Terrorlager in Auschwitz befreit wurden, fielen mir dann die Gedichte von Johannes Bobrowski ein. Mehr Worte braucht es nicht.

 


HOLUNDERBLÜTE

Es kommt
Babel, Isaak,
Er sagt Bei dem Prgrom,
als ich Kind war,
meinr Taube
riß man den Kopf ab.

Häuser in hölzerner Straße.
mit Zäunen, darüber Holunder.
Weiß gescheuert die Schwelle,
die kleine Treppe hinab –
Damals, weißt du,
die Blutspur.

Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergesslichkeit.

Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit | Schattenland Ströme . – Neuausgabe in einem Band, Stuttgart, DVA 1962, S. 69/70

 

Johannes Bobrowski geb. 1917 in Tilsit/Sowetsk, Russland, nahe der litauischen Grenze an der Memel gelegen, gest.  1965 in Ost-Berlin, Lyriker, Erzähler, und Romancier, hat ein relativ kleines aber umso beeindruckenderes lyrisches und erzählerisches Werk hinterlassen. Sein Thema hat er selbst so beschrieben:

Ich befasse mich, nach meiner Ansicht, mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern. Ich benenne also Verschuldungen – der Deutschen – und versuche, Neigung zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen usw.

Johannes Bobrowski: Benannte Schuld – gebannte Schuld? In: ders.: Die Erzählungen, Vermischte Prosa und Selbstzeugnisse. Hrsg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1999, S. 447.

Ich würde dem noch hinzufügen, dass es ihm auch und immer um das Erinnern ging, um das Nicht Vergessen.

 

DIE SPUR IM SAND

Der blasse Alte
im verschossenen Kaftan.
Die Schläfenlocke wie voreinst. Aaron,
da kannte ich dein Haus.
Du trägst die Asche
im Schuh davon.

Der Bruder trieb
dich von der Tür. Ich ging
dir nach. Wie wehte um den Fuß
der Rock! Es blieb mir eine Spur
im Sand.

Dann sah ich
manchmal abends
von der Schneise
dich kommen, flüsternd.
Mit den weißen Händen
warfst du die Schneesaat
übers Scheunendach.

Weil deiner Väter Gott
uns noch die Jahre
wird heller färben, Aaron,
liegt die Spur
im Staub der Straßen,
find ich dich.

Und gehe.
Und deine Ferne
trag ich, dein Erwarten
auf meiner Schulter.

Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit | Schattenland Ströme . – Neuausgabe in einem Band, Stuttgart, DVA 1962, S. 22/23 

Zwei Gedichtbände, ein Roman und zwei Bände mit Erzählungen hat Bobrowski zu Lebzeiten veröffentlichen können. Ausser dem grossen kleinen (149 Seiten) Roman Litauische Claviere  und einem Band mit ausgewählten Texten im Schrödel Verlag, einem Schulbuch-Verlag immerhin, ist von ihm nichts aktuell lieferbar. Man muss sich also antiquarisch auf die Suche machen.

Wer mehr über Johannes Bobrowski, sein Leben, seine Orte und sein schmales Werk wissen möchte, dem empfehle ich die verdienstvolle Homepage der Johannes-Bobrowski-Gesellschaft.

Ans Ende habe ich eine ausführliche Bibliographie angehängt. Es lohnt sich sehr, sich mit diesem Dichter zu beschäftigen, auch wenn seine wunderbare Sprache aufvden ersten Blick schwer zugänglich scheint. Ich habe ihn hier nicht umsonst Dichter genannt. Er ist ein grosser Sprachverdichter. Die Lesearbeit lohnt!

 

BIBLIOGRAPHIE

I. Einzelwerke – erschienen zu Lebzeiten

Sarmatische Zeit, Gedichte. 1961

Schattenland Ströme, Gedichte. 1962

Sarmatische Zeit | Schattenlamd Ströme, Gedichte, Doppelband, 1962

Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater, Roman. 1964

Boehlendorff und andere, Erzählungen. 1965

Mäusefest und andere Erzählungen. Berlin 1965

 

II. Einzelwerke – posthum erschienen

Litauische Claviere, Roman. 1966

Wetterzeichen, Gedichte. Berlin 1967

 

III. Aus dem Nachlass

Der Mahner, Erzählungen und andere Prosa aus dem Nachlaß. Berlin 1968.

Im Windgesträuch – Gedichte aus dem Nachlaß. Ausgewählt und hrsg. von Eberhard Haufe. Berlin 1970.

Bernd Jentzsch (Hrsg.): Poesiealbum 52, Gedichte. Berlin 1972.

 

IV. Werkausgabe

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band I: Die Gedichte.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
396 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3421063540

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band II: Gedichte aus dem Nachlaß.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
424 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3421063559

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band III: Die Romane.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
334 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3421063567

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band IV: Die Erzählungen, vermischte Prosa und Selbstzeugnisse.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
526 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3421063575

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band V: Erläuterungen der Gedichte von Johannes Bobrowski.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
412 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3421051666

Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Band VI: Erläuterungen der Romane, der Erzählungen, vermischte Prosa und Selbstzeugnisse von Holger Gehle.
Herausgegeben von Eberhard Haufe und Volker Gehle.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998.
598 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3421051739

 

V. Über Johannes Bobrowski

Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers- 15 Kapitel über Johannes Bobrowski, Berlin, 1981

Christoph Meckel: Erinnerung an Johannes Bobrowski, München/Berlin, 1981

 

„C’est fini! Pour cette fois!“ / Es ist vorbei. Für diese Runde. #CharlieHebdo #JeSuisCharlie

Charlie Hebdo. Jüdischer Supermarkt. Druckerei. Tankstelle. Schüsse auf Moscheen. Nigeria. Loko Haram. Pegida.

Fehlen Euch auch die Worte? Und geht Euch trotzdem fast das Hirn über vor lauter Gedanken darüber, wie das alles passieren konnte und vor allem, woran es liegt und was man ändern kann. Wo die Zusammenhänge sind.

Gehen Euch auch die Gedanken komplett durcheinander von emphatischem Mitleiden, Trauern, Verzweifeln. Ertappt Ihr Euch auch bei so komischen, fast hasserfüllten Gedanken, die Ihr nie denken wolltet und solltet

Mir geht es so. Mir fehlen die Worte. Aber man darf nicht Schweigen. WIR dürfen nicht Schweigen.

Pegida will jetzt als Verein anerkannt und gemeinnützig werden. Pegida gibt es jetzt auch in Österreich. Frau Le Pen will wieder die Todesstrafe in Frankreich einführen.

Nein, wir dürfen jetzt nicht Schweigen, so sehr uns auch die Worte fehlen.

Heike Pohl ist Journalistin und hat Worte gefunden. Sie hat sie auf ihrem Blog Textwerk veröffentlicht und ich möchte sie hier rebloggen.
Es ist ein längerer Text. Lest ihn bitte bis zum Ende, er ist gut, er ist wichtig. Ich habe dort die Worte gefunden, die mir fehlten. Ich hoffe, es geht Euch auch so.